Am 09. Juni 2021 veröffentlichte der “Soester Anzeiger” in seiner Lokalausgabe Soest diesen umfangreichen Artikel über die Arbeit von ai:
Amnesty International wird 60 – Soester Gruppe Teil der weltweiten Bewegung für die Menschenrechte
Soest. Bringt das denn überhaupt was? In der Rangliste der meistgestellten Fragen dürfte dieser ein Spitzenplatz sicher sein. Eine Frage, die Aktiven der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) nämlich regelmäßig gestellt wird, wenn sie in der Brüderstraße Passanten um eine Unterschrift bitten. Eine Unterschrift unter einen Appellbrief an Politiker, eine Unterschrift auf einer Solidaritätspostkarte an einen politischen Gefangenen in der Ukraine oder an eine inhaftierte Frauenrechtlerin im Iran,
Bringt das überhaupt etwas? – Eine Frage, die sich Aktive aus der Soester Gruppe von Amnesty auch immer wieder stellen und unmissverständlich beantworten: Ja, es bringt etwas.
Ja, weil es Fälle wie den von Khaled Drareni gibt. Der junge Journalist wurde am 19. Februar dieses Jahres vom algerischen Präsidenten Tebboune begnadigt. Es saß im Gefängnis, weil er seine Arbeit gemacht und über eine Demonstration berichtet hatte. Einen Protestzug, den die Regierung totschweigen wollte. Hunderte Schülerinnen und Schüler des Conrad-von-Soest-Gymnasiums und des Städtischen Gymnasiums Erwitte hatten sich beim Amnesty-Briefmarathon rund um den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2020 auch für Khaled Drareni eingesetzt. AI Soest hatte sie dabei unterstützt. Die Freilassung des Journalisten ist für die Aktiven der Schülervertretung Motivation, beim nächsten Briefmarathon wieder mitzumachen.
„Ja, es bringt etwas!“, sagt Ulla Gutsche. Sie arbeitet schon seit 1981 in der Soester Gruppe mit. Sie erinnert sich gut an ihren ersten Fall, einen südafrikanischen Freiheitskämpfer unter dem rassistischen Apartheid-Regime, den die Gruppe „adoptiert“ hatte. Er kam nach massivem öffentlichem Druck frei. Druck, der auch aus Soest kam. Ein Vietnamese, der wegen eines unbotmäßigen Gedichts in Haft saß, konnte das Gefängnis verlassen – auch, weil sich AI und viele Soester Briefeschreiber für ihn eingesetzt hatten.
Aber es gibt auch Fälle wie den oppositionellen Syrer, für den sich die Gruppe jahrelang engagiert hatte, ohne irgendeine Reaktion zu bekommen. „Das war entmutigend“, blickt Gutsche zurück. Denn erst nach 17 Jahren Haft ohne Anklage und Urteil kam Ahmad Isa schließlich wieder in Freiheit. Ob die Appelle von AI dazu allerdings irgendeinen Beitrag geleistet hatten, bleibt ungewiss.
Es sind Tausende Opfer von Menschenrechtsverletzungen, für die sich Amnesty seit 60 Jahren eingesetzt hat. Alles begann mit einem Toast auf die Freiheit, mit dem zwei Studenten in einem Café in Lissabon auf bessere Zeiten anstießen. In Portugal herrschte damals das Regime des Diktators Salazar, das Kritiker gnadenlos verfolgte. Für ihren Trinkspruch landeten die beiden Studenten dann auch hinter Gefängnismauern.
Als der britische Rechtsanwalt Peter Benenson eine Zeitungsnotiz über die beiden freiheitsliebenden Portugiesen las, war für klar, dass das Schicksal dieser „vergessenen Gefangenen“ endlich aus dem Dunkel gerissen werden musste. Benensons in der Zeitung „The Observer“ am 28. Mai 1961 veröffentlichter Aufruf, den gewaltlosen politischen Gefangenen eine Stimme zu geben, wurde zur Geburtsstunde von Amnesty International. 30 Zeitungen drucken den Artikel “The Forgotten Prisoners” nach, Hunderte Menschen forderten in Briefen an die verantwortlichen Regierungen die Freilassung der politischen Gefangenen.
Kurz nach der Gründung von ai in Großbritannien ergriffen die Journalistin Carola Stern und ihr Berufskollege Gerd Ruge die Initiative zur Gründung der deutschen AI-Sektion.
Ziel war in den Anfangsjahren vor allem die Unterstützung für gewaltlose politische Gefangene und die Mobilisierung der Öffentlichkeit für ihre Freilassung. Überall in der Bundesrepublik gründeten Frauen und Männer AI-Gruppen. Seit über 40 Jahren arbeitet auch in Soest ein Ableger der Menschenrechtsorganisation.
Diese Gruppen sind die Basis der Menschenrechtsarbeit. Mit Info-Ständen, Vorträgen, Ausstellungen, Filmabenden und anderen Aktionen beteiligten sich die Soester Aktiven an den unterschiedlichen Kampagnen für die Menschenrechte.
Neben dem anhaltenden Einsatz für zu Unrecht Inhaftierte engagiert sich AI heute auch mit Erfolg gegen die Todesstrafe, hat die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes mit in die Wege geleitet und die Antifolterkonvention vorangetrieben. 1977 wurde Amnesty International mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Zur Menschenrechtserklärung von 1948 bekennen sich alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Sie ist deshalb ein Maßstab, an dem sich alle UN-Mitglieder messen lassen müssen. Und nichts anderes tut Amnesty.
Dass Verstöße gegen die 30 Artikel jeden Tag in vielen Ländern traurige Realität sind, dokumentiert die Organisation jedes Jahr in einem umfangreichen Jahresbericht, in dem alle Staaten von A bis Z aufgelistet sind. Amnesty ist politisch strikt neutral und nimmt keine staatliche Unterstützung an.
Zunehmend rücken Menschenrechtsverletzungen durch Umweltverschmutzung oder die Zerstörung von Lebensraum in den Fokus der Aktivitäten. Wenn zum Beispiel Menschen von ihren Äckern vertrieben werden, weil dort international operierende Konzerne Rohstoffe abbauen wollen, ist das auch eine Menschenrechtsverletzung – und damit ein Thema für AI.
Heute ist die Organisation in mehr als 70 Ländern vertreten und hat die Unterstützung von mehr als zehn Millionen Menschen. Sie ist damit eine wichtige Stimme der globalen Zivilgesellschaft.
Zu den Aufgaben von Gruppen wie der in Soest gehört auch die finanzielle Sicherung der Arbeit. „Wir veranstalten deshalb jedes Jahr einen Bücherflohmarkt und erwirtschaften so einen Großteil des Beitrags, den wir jedes Jahr beisteuern müssen“, erläutert Gruppensprecherin Judith Kaschowitz. Geld braucht AI, um die Recherche und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, die Unterstützung von Opfern und ihren Familien sowie die Öffentlichkeits- und Menschenrechtsarbeit zu finanzieren.
Am 60. Geburtstag denkt man schon mal an die Rente. Könnte AI in den Ruhestand gehen, sich also auflösen, weil Menschenrechtsverletzungen kein Problem mehr wären, wäre das Ziel der Organisation erreicht. „Wir müssen aber feststellen, dass Verstöße gegen die Menschenrechte in vielen Ländern nach wie vor Alltag sind und sich in einigen Staaten die Lage sogar noch verschärft“, stellt Judith Kaschowitz fest.
Auch die Lage von Menschenrechtsverteidigerinnen und –verteidigern. Denn 60 Jahre nach Gründung gerät AI selbst so stark unter Druck wie nie zuvor: 2020 werden in der Türkei mit Taner Kılıç und Idil Eser zum ersten Mal Vertreterinnen und Vertreter von Amnesty International für ihre Menschenrechtsarbeit zu Haftstrafen verurteilt. Ein einmaliger Rechtsbruch in der Geschichte der Organisation. 2021 zwingt die Regierung Indiens die Amnesty-Sektion dazu, die Menschenrechtsarbeit und Recherche in dem Land vorerst einzustellen. „Dies ist Teil der Bemühungen der Regierung, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und ein Klima der Angst zu schüren – in der größten Demokratie der Welt“, heißt es in einer Pressemitteilung der deutschen AI-Sektion.
„Wir machen also weiter!“, sagt Ulla Gutsche. Weiter als eine Stimme gegen Unrecht und Gewalt. M.H.